„Ach, streichen könnte ich auch mal wieder – man fühlt sich danach immer wie neu geboren,“ plappert die Kassiererin und scannt die beiden Farbeimer und das Malerkrepp begleitet vom monotonen Piepton der Kasse. „Das macht dann 49,95 bitte.“
‚Ein neues Leben für 49,95? Sie hat ja keine Ahnung‘, denkt Laura und zieht ihre EC-Karte durch das Lesegerät. In derselben Minute, als sie ihre Geheimzahl eintippt, kämpft ihre kleine Tochter Lina bereits seit sechs Stunden im OP ums Überleben. Es sollten noch sechs weitere Stunden vergehen, bis Laura und ihr Freund Luca endlich den ersehnten Anruf aus der Klinik bekommen.
von Cornelia Schimmel
Herzkind Lina kam per Kaiserschnitt zur Welt. In der Schwangerschaft kündigte sich bereits an, dass etwas mit ihrem Herzen nicht stimmte. Gewissheit bekamen Laura und Luca jedoch erst, als ihr Kind auf der Welt war. Es stellte sich heraus, dass Lina einen der schwersten Herzfehler hatte, einen sogenannten DORV (Double Outlet Right Ventricle).
Zusätzlich musste ein gutartiges tumorartiges Gebilde an der Wirbelsäule des Säuglings entfernt werden. Der Herzfehler war eindeutig diagnostiziert, jetzt galt es auf die Schnelle eine geeignete Klinik zu finden, die Linas Herzfehler in Kombination mit dem Tumor operierte. Der Kinderherzchirurg Professor Schlensak vom Universitätsklinikum Tübingen traute sich diese komplizierte Operation zu.
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„Hallo Lina“ – Kennenlernen auf der Intensivstation
Der erste Besuch auf der Kinderintensivstation in Tübingen hat sich bei den jungen Eltern tief eingeprägt: „Unsere Lina lag da umgeben von Kabeln und Schläuchen in ihrem kleinen Gitterbettchen und die Schwester fragte, ob wir sie halten wollten. Wir waren total überfordert.“ Linas Mutter Laura nahm das Angebot der Schwester an. „Das war so schön, mein Kind zum ersten Mal zu halten. Aber die Ungewissheit und die Angst waren schlimm. Sie war zu früh, zu klein, zu krank.“
Um Linas krankes Herz lebensfähig zu machen, planten die Ärzte einen sogenannten Fontan-Kreislauf.
Der sogenannte Fontan-Kreislauf soll den bisherigen gemeinsamen Kreislauf trennen, um so die Sauerstoffunterversorgung zu beheben und die hohe Belastung der Herzkammer zu reduzieren. Die Behandlung besteht aus drei notwendigen Operationen am Herzen des Kindes. Herz und Gefäße werden schrittweise chirurgisch so umgestaltet, dass das „verbrauchte“ Blut aus dem Körper passiv direkt in die Lunge fließt und die funktionsfähige Herzkammer das „frische“ Blut in den Körper pumpt. Nun spricht man von einem Fontan-Kreislauf.<<
Ehrliche Worte und keine guten Chancen
Kurz vor der großen Herz-Operation nahm ein Arzt die jungen Eltern zur Seite und setzte sie über die Chancen ihrer Tochter ins Bilde. „Normal entwickelte Kinder haben bei dieser Operation eine Überlebenschance von 70 zu 30. Ihre Tochter wiegt viel zu wenig, das Herz ist noch viel zu klein und sie erholt sich gerade von der Tumor-OP … Sie können sich ihre Überlebenschancen selbst ausmalen.“ Schroff aber ehrlich. „So grausam das klingen mag, aber zu diesem Zeitpunkt hätte Lina noch gehen dürfen, wenn sie das gewollt hätte. Da waren wir beide uns einig.“
12 Stunden Ungewissheit
12 Stunden. Das sind 720 lange Minuten, in denen die Eltern ununterbrochen ihre Handys auf Nachrichten aus der Klinik checkten. Um nicht verrückt zu werden, verhielten sich Laura und Luca so, als gäbe es die schlechte Prognose für ihre Tochter nicht. Sie kauften Wandfarbe für Linas Kinderzimmer. „Gerade, weil es so knapp war, wollten wir ein Zeichen setzen und Linas Überleben nicht in Frage stellen. Diese positive Energie hat sich freigesetzt und ist bei Lina angekommen, da sind wir uns ganz sicher!“
Lina lebt!
Und es klappte. Entgegen der Prognose der Ärzte schaffte Lina die erste Herz-OP und biss sich in den folgenden Tagen durch. Doch kurz darauf wurde sie wieder an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Die Maschine übernahm den Herzkreislauf, um das schwache kleine Herz zu schonen.
Was hilft in einer so schweren Zeit?
Laura und Luca sprachen viel miteinander über ihre besondere Situation und versuchten sich gegenseitig aufzubauen. Nach wie vor mussten sie sich komplett auf die Aussagen der Ärzte verlassen. „Wir haben natürlich gegoogelt, überlegt, uns alles selbst beigebracht – wir sind nach und nach in das Thema Angeborener Herzfehler reingewachsen.“
Das erste Mal zu Hause
Anfang Januar, über fünf Monate nach Linas Geburt, durfte die Familie zum ersten Mal nach Hause. „Wir hatten ein mulmiges Gefühl, die Klinik zu verlassen, denn das kleine Krankenhaus in unserer Heimatstadt wäre auf einen Notfall definitiv nicht eingestellt gewesen.“
Also blieb Lina auch Zuhause Tag und Nacht an die Überwachsungsgeräte angeschlossen. Nach wenigen Wochen verschlechterte sich ihr Zustand. Linas Lunge war durch die lange Zeit an der Herz-Lungen-Maschine in Mitleidenschaft gezogen worden. Schließlich landeten sie wieder an der Uniklinik Tübingen.
Doch die Ärzte konnten nicht feststellen, warum genau sich der Zustand von Linas Lunge so drastisch verschlechtert hat. Es vergingen weitere zwei Monate in Ungewissheit. Im April führten die Ärzte dann Linas zweite große Herz-Operation, die Glenn-OP, durch.
Hop oder Top
Abends nach der Glenn-Operation waren Linas Werte immer noch grenzwertig – in ihren linken Lungenflügel drang kein Tropfen Blut. Nichts half. Die Ärzte konnten einfach nichts mehr tun. Es gab nur eine Lösung: Lina musste es von jetzt an alleine schaffen.
„Auch, wenn wir ihr zu Beginn ihres Lebens noch erlaubt hätten zu gehen, so war das zu diesem Zeitpunkt längst keine Option mehr!“ Laura und Luca hielten an ihrem Optimismus fest. „Es kann schnell vorbei sein. Aber wir haben an sie geglaubt und das hat sie gespürt – ihr Lebenswillen ist unfassbar.“ Auch gegen die medizinische Einschätzung verbesserten sich ihre Werte auf unerklärliche Weise von heute auf morgen. Lina hatte zum zweiten Mal entgegen jeglicher Expertenmeinung überlebt.
„Wenn die Ärzte sagen, dass man nichts mehr tun kann, dann glaubt man das. Ich hätte mir nicht ausmalen können, was Lina für eine Kraft hat.“
Neue Hoffnung für Linas Herz?
Nach den ganzen Strapazen verbrachte die kleine Familie ein halbes Jahr zu Hause. Dann kam es wieder anders als gedacht. Während einer Routine-Untersuchung bei ihrem Kinderkardiologen Dr. Bartz äußert dieser eine gewagte Vermutung: Er sah bei Linas Herz das Potenzial für ein Zweikammerherz.
>>Bei einigen angeborenen Herzfehlern steht nur eine funktionsfähige Herzkammer zur Verfügung. Man spricht dann von einem univentrikulären Herzen („Einkammer-Herz“). Durch das Verfahren des Fontan-Kreislaufes kann der Herzfehler nicht geheilt, sondern nur verbessert werden, es bestehen jedoch erhebliche Steigerungen in der langfristigen Lebensqualität der Kinder. Dennoch können langfristige Probleme auftreten wie z.B. Bronchitis plastica oder das Eiweißverlustsyndrom.<<
Der Gedanke daran, dass der Kinderkardiologe, dem sie am meisten vertrauen, bei Lina diese Chance sah, ließ die Eltern nicht mehr los. „Dr. Bartz ist bis heute 24 Stunden für uns erreichbar, er geht in JEDER Situation ans Telefon und nimmt sich immer stundenlang Zeit für uns. Als er uns sagte, er kenne einen Professor Asfour in Sankt Augustin, dem er die OP zutrauen würde, waren wir wie elektrisiert!“
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Ein Hoffnungsschimmer
Gesagt, getan. Luca fuhr zu Prof. Asfour nach St. Augustin. Sie sprachen eine Stunde lang über Linas Befunde. „Er ist eine Koryphäe und hatte so viel Zeit für mich,“ Luca war perplex vom ersten Kontakt. Ein Herzkatheter in Bonn brachte die endgültige Bestätigung: Linas Herz ist korrigierbar.
Ankunft in Bonn
Im Bonner ELKI traf die Familie auf ein neues Team. Anstelle von Herrn Prof. Asfour wurde Dr. Vergnat für Linas OP eingeteilt. „An der Schleuse zwischen Station und Operations-Saal sein Kind ins Ungewisse abzugeben, ist der blanke Horror. Auch, wenn man weiß, dass die Ärzte von nun an das Leben deines Kindes retten, zerreißt es uns Eltern das Herz!“
>> Bei Lina wurde die sogenannte Yasui-Operation durchgeführt. <<
Nach der 12-stündigen OP kam Dr. Vergnat persönlich zu den wartenden Eltern, um ihnen vom erfolgreichen Eingriff zu berichten. „Dr. Vergnat war unser Schutzengel, er hat eine Meisterleistung vollbracht: sowohl medizinisch, als auch menschlich hat er uns tief beindruckt!“
Lina wurde noch auf der Intensivstation sediert und ständig beobachtet. Zwei Tage lang schien endlich alles überstanden. Linas Eltern haben eine sehr gute Unterstützung erfahren und sich professionell und menschlich bei dem Kinderherzchirurgen ihrer Tochter gut aufgehoben gefühlt.
„In Tübingen hat man Linas Überleben ermöglicht. In Bonn hat man ihr eine Zukunft geschenkt.“
Doch dann kam der Tag, an dem Lina vom Beatmungsgerät genommen wurde. Ihr junger Kreislauf war von der großen Umstellung geschwächt. 2 Jahre lang war Linas Körper nur auf Überleben gepolt, jetzt war einfach keine Kraftreserve für die Anpassung mehr übrig. Die Ärzte entschieden, das Kind aus der Sedierung zu holen und fuhren die Medikamente langsam herunter, damit sie wach werden konnte.
Ein unfairer Tausch
„Doch das Kind, das uns anschaute, war nicht unsere Lina. Sie hatte zwar die Augen geöffnet, aber sie war nicht ansprechbar, zeigte keinerlei Reaktionen, gab seltsame Geräusche von sich und verdrehte die Arme. Wir hatten offensichtlich den Herzfehler gegen eine geistige Behinderung eingetauscht.“ Laura und Luca waren am Boden zerstört – ihre Hoffnungen auf ein möglichst normales Leben mit Lina hatten sich zerschlagen.
Was ist falsch gelaufen?
Kardiologisch war Lina kuriert – den Grund für ihren abwesenden geistigen Zustand konnte sich niemand erklären. Niemand konnte einen Fehler finden … es war wie verhext. Seitdem dieses neue Problem im Raum stand, kam Dr. Vergnat jeden einzelnen Tag zu Lina ans Bett. Es hat ihm keine Ruhe gelassen, dass es einem „seiner“ Kinder so schlecht ging. „Später erzählte er uns, dass er die OP noch 100 Mal im Kopf durchgegangen ist, aber es war einfach kein Fehler passiert. Linas geistiger Zustand war nicht erklärbar.“
Es nimmt kein Ende
Da Lina kardiologisch auskuriert war, verließ die Familie die Klinik schließlich. Der Kinderkardiologe Dr. Bartz blieb an der Seite der Familie. „Er hat sich jeden Tag nach Linas Zustand informiert und sich um jegliche Therapie und Experten für Lina gekümmert.“ Doch eh die Therapien starten konnten, musste Lina wieder zurück nach Bonn – sie hatte sich zu allem Übel noch eine Endokarditis eingefangen. Eine Not-OP rettete erneut ihr Leben. Zum dritten Mal sprang sie dem Tod von der Schippe. Geistig blieb Lina weiterhin in ihrer ganz eigenen Welt.
Verabschiedung für immer?
Neun Wochen lang verabschiedeten Laura und Luca sich in der Klinik jeden Abend von ihrem schwerbehinderten Kind. „Tschüss, bis morgen, mein Schatz,“ hören Lina und Luca sich noch sagen. Es war jeden Abend ein Abschied ins Ungewisse.
Wunder geschehen, wenn man nur fest genug an sie glaubt
Doch an diesem einen Morgen schaute Lina ihre Eltern mit klaren strahlenden Augen an und grinste. „Sie können sich nicht vorstellen, wie unglaublich dieser Tag war! Lina war von heute auf morgen völlig normal, so als hätten die letzten zwei Monate nicht stattgefunden!“ Lina war nach langer Zeit aus ihrem bösen Traum erwacht und wieder einmal gibt es dafür keine Erklärung. „Lina macht es gerne spannend, anders können wir es uns nicht erklären,“ grinst Luca.
kinderherzen Stiftung Bonn hilft Kindern mit angeborenem Herzfehler wie Lina.
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Seit 30 Jahren setzt sich kinderherzen für die Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten von Kindern und Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler ein. Angeborene Herzfehler sind die häufigste Organfehlbildung. Allein in Deutschland leben über 100.000 Kinder mit einem Herzfehler.